Her darkness is light
On recent paintings by Dagmar Rauwald
by Daniel Spanke
When no longer numbers and figures
Are keys of all creatures,
If those who sing or kiss,
Know more than the learned,
When the world in free life,
And into the world will return,
When light and shadow
To real clarity,
And in tales and poems
The eternal stories of the world,
Then before a secret word
The whole inverted being flies away.
Novalis (1772 - 1801)

When modernity was still young, the Romantics believed that the world could be healed. They were well aware of the crack in the world through which modernity entered the stage of history: the crack that separates the feeling from the knowing, language from meaning, art from life, life from the world, and that splits us into individuals who no longer know themselves or each other. With the search for the secret word that unlocks the garden of paradise for us again, the expedition into the interior began - into the interior of our emotional life and also into the interior of art. It has not been found yet. "Not a dying word, your words!" instructs Ingeborg Bachmann much later in her poem1, and our late modernity, in which we live, wears the realisation that among the too many words the one word can be found less than ever, like a seal on the book of its history.
The simple, easy to understand, clear pictures are not possible. Because our modern world is not like that. Dagmar Rauwald's paintings are not so sure of the identity of things. They are circled with colours out of a ground of radiant white, seem to sink back into white again, reappear and remain in a state of "foresight" that knows no secured surfaces of objects. Everything remains in the flow of painting with the pasty, sometimes thin substance of the colours, which only become solid after a while. Again and again, the artist has painted over what has been created, taken it back again, in order to lay new traces of the realisation of her pictorial world with remarkable ease. In these works, this pictorial world exists more as a possibility than as a fact, more as a constant process of becoming and passing away than as a permanent presence. It is a specifically modern thought, expressed by Robert Musil, that if there is a sense of reality, there must also be a sense of possibility.2 Art would then be the organ of this sense of the world's possibility. The Romantics already believed in this and it also applies to Dagmar Rauwald's art.
Possibility, and thus the new in the future, modernity,3 arises where the gaze is directed into the indeterminate. Dagmar Rauwald's gaze virtually turns away from physical seeing and seeks to sense and circumscribe inner connections. How untrained our Western culture is in looking at things other than surfaces and in defining things firmly is evident in her paintings. The often cipher-like painting style, which knows no fixed contours, is also a pictorial expression of this. Her brushstrokes do not fix or establish the things of the world that her paintings are about, as if to say, "this is a rooster, this is a rose, this is a person". "Running Beside a Rooster" (fig. #) shows at least three roosters at once in the foreground: one on the far left, small and almost painted shut again with white; one just left of centre, one recognises the dark bottle green and red of a rooster, its elongated form with a hint of a crest on its head; and on the right an equally elongated form with a crest, but paler in colour, even more "eventual" than the rooster of the centre. But the naming also remains a question: one rooster? or three roosters? or one rooster we run with? so that the artist has found the pictorial form of triplication, as it were, for the succession of movement, the running together, the passing of time and the emergence of the future, as if in a still film. Eye shapes in the centre above reflect our watching or also the gaze of the rooster or even the image we are looking at? Where are we when we look? Who are we then? A The Latin word "interest" literally means "to be in between", to be in the midst of things, to participate in them.

Ihr Dunkel ist hell
Zu neueren Gemälden von Dagmar Rauwald
von Daniel Spanke

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt in’s freie Leben,
Und in die Welt wird zurückbegeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit gatten,
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die ew’gen Weltgeschichten,
Dann fliegt vor einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.
Novalis (1772 - 1801)
Als die Moderne noch jung war, glaubten die Romantiker daran, dass die Welt zu heilen ist. Sie waren sich des Risses in der Welt, durch den die Moderne die Bühne der Geschichte betrat, wohl bewusst: der Riss, der die Fühlenden von den Wissenden trennt, die Sprache von der Bedeutung, die Kunst vom Leben, das Leben von der Welt und der uns in Individuen aufspaltet, die sich und die sich einander nicht mehr kennen. Mit der Suche nach dem geheimen Wort, das uns den Paradiesgarten wieder aufschließt, begann die Expedition ins Innere – ins Innere unseres Gefühlslebens und auch ins Innere der Kunst. Es wurde bisher nicht gefunden. „Kein Sterbenswort, Ihr Worte!“ weist Ingeborg Bachmann viel später ihr Gedicht an1, und unsere Spätmoderne, in der wir leben, trägt die Erkenntnis, dass unter dem Zuviel an Wörtern das eine Wort weniger denn je gefunden werden kann, wie ein Siegel auf dem Buch ihrer Geschichte.

Die einfachen, leicht verständlichen, klaren Bilder sind nicht möglich. Denn unsere moderne Welt ist nicht so. Die Malerei Dagmar Rauwalds ist sich der Identität der Dinge nicht so sicher. Sie werden aus einem Grund von strahlendem Weiß heraus mit Farben umkreist, scheinen wieder ins Weiß zurückzusinken, neu aufzutauchen und bleiben in einem Zustand der „Vor-sicht“, der keine gesicherten Oberflächen von Gegenständen kennt. Alles bleibt im Fluss des Malens mit der pastosen, manchmal dünnen Substanz der Farben, die erst nach einer Weile fest werden. Immer wieder hat die Künstlerin das Entstehende übermalt, wieder zurückgenommen, um mit bemerkenswerter Leichtigkeit neue Spuren des Wirklichwerdens ihrer bildlichen Welt zu legen. Diese Bildwelt existiert in diesen Werken eher als Möglichkeit, denn als Tatsache, eher als ständiger Prozess des Werdens und Vergehens, denn als dauernde Gegenwart. Es ist ein spezifisch moderner Gedanke, dem Robert Musil Ausdruck verliehen hat, dass wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, es auch einen Möglichkeitssinn geben muss.2 Die Kunst wäre dann das Organ dieses Sinns für die Möglichkeit der Welt. Daran glaubten schon die Romantiker und es gilt auch für die Kunst Dagmar Rauwalds.

Möglichkeit und damit das Neue in der Zukunft, die Moderne,3 entsteht da, wo der Blick ins Unbestimmte gerichtet wird. Dagmar Rauwalds Blick wendet sich dabei geradezu vom physischen Sehen ab und sucht innere Zusammenhänge zu erspüren und zu umschreiben. Wie ungeübt unsere westliche Kultur darin ist, anders als auf Oberflächen zu schauen und Dinge fest zu definieren, sieht man ihren Gemälden an. Auch dafür ist die oft chiffrenhafte Malweise, die keine festen Konturen kennt, ein bildlicher Ausdruck. Ihr Pinselstrich fixiert die Dinge der Welt, von denen ihre Bilder handeln, nicht und stellt sie nicht fest, als ob man sagen würde: „dies ist ein Hahn, dies ist eine Rose, dies ist ein Mensch“. „Neben einem Hahn laufen“ (Abb. #) zeigt mindestens gleich drei Hähne im Vordergrund: einer ganz links, klein und mit Weiß fast wieder zugemalt; einer knapp links von der Mitte, man erkennt das dunkle Flaschengrün und das Rot eines Hahnes, seine lang gestreckte Form mit einer Andeutung eines Kammes am Kopf; und rechts eine ebenso lang gestreckte Form mit Kamm, aber farblich blasser, noch „eventueller“ als der Hahn der Mitte. Doch die Benennung bleibt auch eine Frage: Ein Hahn? oder drei Hähne? oder ein Hahn, mit dem wir laufen?, so dass die Künstlerin für das Aufeinanderfolgen der Bewegung, das Miteinanderlaufen, das Vergehen der Zeit und das Auftauchen der Zukunft die bildliche Form der Verdreifachung gleichsam wie in einem stillgelegten Film gefunden hat. Augenformen in der Mitte oben spiegeln unser Beobachten wieder oder auch den Blick des Hahns oder gar des Bildes, das wir betrachten? Wo sind wir, wenn wir schauen? Wer sind wir dann? Ein Das lateinische Wort „Interesse“ meint wörtlich „dazwischen sein“, mitten unter den Dingen, an ihnen teilhaben.

Es gibt einen Grundzweifel der Moderne an der Welt schlechthin, der mit der Einsicht einhergeht, dass unser Weltbild maßgeblich von den Möglichkeiten unserer Bilder abhängt. Wofür wir kein Bild haben, das können wir nicht erkennen. Dieser Grundzweifel ist schon länger auch in den modernen Naturwissenschaften angekommen: Der Physiker Werner Heisenberg erkannte in den späten 1920er Jahren, dass das Beobachten stets Einfluss auf das Beobachtete hat. Wir sehen niemals die Dinge an sich, sondern nur von uns gesehene Dinge. Dagmar Rauwalds Kunst ist dieser spezifisch modernen Befindlichkeit besonders verpflichtet. Es gibt in ihren Bildern keine voneinander isolierten Gegenstände, sondern alles ist untrennbar in vielfältigen Verhältnissen verwoben: solchen des Miteinanders, der Konkurrenz, des Austausches, des Kontrastes, des Übergangs, des Durchscheinens, des Unterliegens usf. Kunst in der Moderne ist im besonderen Maße Arbeiten am Rande: am Rande des schon Gewussten, des schon Deutlichen, des schon Vertrauten. Hinter das schon Gewusste, schon Deutliche, schon Vertraute entwirft Dagmar Rauwald ihre Bilder. Davor scheint sie keine Angst zu haben und es drückt sie nicht, denn ihr Dunkel ist hell. Dorthin, in die Wildnis des Denkens, folgen unsere Worte nur mühsam. Denn das eine, das geheime Wort liegt nicht auf der Zunge wie die Nachricht in der neusten Zeitung – es liegt immer weit davor.
1 Ingeborg Bachmann (1926 – 1973). Es ist der Schlussvers ihres 1961 geschriebenen Gedichts „Ihr Worte“.
2 Robert Musil (1880-1942): Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek 1978, S. 16.
3 S. dazu Daniel Spanke: Avantgarde – Aktualität – Anachronismus. Zur Geschichtlichkeit der modernen Kunst. In: Kat. Strenges Holz. Heiner Szamida, Helga Weihs, Jan de Weryha. Kunsthalle Wilhelmshaven 2004, S. 8-19.
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